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Städtereisen Hamburg

Im "Miniatur Wunderland" feiern Punks mit Polizisten

In Hamburg steht die größte Modelleisenbahnanlage der Welt. Anfangs als verrückte Idee belächelt, wünschen sich heute selbst Länder wie Dubai ein "Miniatur Wunderland".
Redakteurin

Morgens um sieben, wenn die Gänge noch menschenleer sind, ziehen die Modellbauer ihre Schuhe aus. Auf Socken laufen sie durch die Modellwelten der Schweiz, durch Nordamerika, Skandinavien und zum Schloss Neuschwanstein. Zu viert inspizieren sie die Miniaturlandschaften im Maßstab 1:87, bessern hier aus, reparieren da – und entdecken immer wieder, dass eine Figur fehlt.

Was die Diebe mit den fußlosen Männchen vorhaben, ist Modellbauer Gerhard Dauscher allerdings ein Rätsel. „Wir erkennen die Verluste sofort an den festgeklebten Fußresten“, sagt er. Mehr als 3500 Figuren wandern jährlich unbemerkt von der Ausstellungsfläche in die Taschen der Besucher.

Immer wieder tauchen fremde Figuren auf

Worauf die Modellbauer viel mehr achten als auf Verluste, das sind fremde Figuren, die nicht in die Landschaft passen. Fremdlinge, die die Besucher unbemerkt in die Modellwelten hineingestellt haben. Üblicherweise parken Spediteure heimlich Modelltrucks mit dem Firmenlogo auf der Anlage. „Wir können sie bei Nachtbeleuchtung aber leicht identifizieren, da sie als einzige keine Lichter haben. Wenn wir ein fremdes Teil entdecken, schicken wir es – sofern mit Firmenlogo –, versehen mit einer symbolischen Abschleppgebühr zurück“, sagt Gerrit Braun.

Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Frederik gründete er 2001 das „ Miniatur Wunderland „ in der Hamburger Speicherstadt. Die Banken, bei denen sie damals um zwei Millionen Mark Kredit vorsprachen, hielten den Plan, die größte Modelleisenbahn der Welt zu bauen, zunächst für eine absurde Idee. Letztlich ließen sie sich aber vom Enthusiasmus der beiden Modellbauer anstecken.

Der Erfolg gab den Zwillingsbrüdern recht. Seit der Eröffnung vor zehn Jahren wurden 8,5 Millionen Besucher im „Miniatur Wunderland“ gezählt, allein in diesem Jahr rechnen sie mit 1,15 Millionen. Frühmorgens schon stehen Familien, Schulklassen und Seniorengruppen hier an, um das Märchen im Maßstab 1:87 zu bestaunen. Es gibt Wartezeiten. Für den Hamburger gehören die Besucherschlangen, die sich vor den backsteinroten, alten Gebäuden des ehemaligen Hamburger Zollgebiets am Kehrwieder entwickeln, schon zu einem festen Bestandteil der Speicherstadt.

In einer Umfrage des Internet-Reiseportals Trivago rangierte das „Miniatur Wunderland“ 2008 auf der Liste der beliebtesten Einzelattraktionen Europas auf Platz sechs, gleich hinter dem Pariser Louvre und vor dem Centre Pompidou. „Es ist wohl eine Mischung aus Glück, Perfektionismus, Mut zum ‚Anderssein‘ und natürlich Liebe zum Detail“, erklärt Gerrit Braun das Erfolgsrezept.

In der Schweiz graben Bankräuber einen Tunnel

Es ist nicht einfach nur die Originaltreue der Miniaturlandschaft, die fasziniert. Es sind auch die im buchstäblichen Sinne kleinen Geschichten, die erzählt werden – vorausgesetzt, der Besucher schaut genau hin. In der Miniatur-Schweiz zum Beispiel graben Bankräuber einen Tunnel zum Tresorkeller einer UBS-Bankfiliale.

Dass man im „Miniatur Wunderland“ auf echte Firmennamen stößt, liegt daran, dass die Macher sich auch hier der Originalität verschrieben haben. „Generell wollen wir das Wunderland werbefrei halten, aber es gibt Gebiete, in der die Wirklichkeit durch Werbung interessanter wird. Wie sähe zum Beispiel eine Straße aus, auf der nur weiße, unbeschriftete Lkw stünden?“, sagt Gerrit Braun.

Neben solchen Szenen wird auch regelmäßig auf Aktuelles Bezug genommen. So ging es beispielsweise in der Adventszeit besinnlich zu – dank der 800 beleuchteten Weihnachtbäume und der vielen Weihnachtsmänner, die auf Marktplätzen, in Fußgängerzonen, auf Bahnsteigen aufgestellt wurden.

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Wer die Mini-Welt besucht, kann auf zwei Stockwerken den Harz, die Alpen und Österreich sowie Nordamerika besichtigen – und die Stadt Knuffingen, auf deren Hauptstraße eine Radaranlage ständig zu schnell fahrende Laster blitzt. Neu ist der Knuffingen Airport, ein originalgetreuer Nachbau des Hamburger Flughafens: 40 Mini-Flugzeuge werden von einem Start- und Landekatapult in die Luft befördert und rollen, gesteuert von einem Satellitensystem, über das Rollfeld.

Die Brüder Gerrit und Frederik Braun spielten schon als Kinder mit Modelleisenbahnen – und auch schon damals sprengten sie übliche räumliche Dimensionen. Ihre Parcours reichten damals „vom Kinderzimmer über das Gäste-WC bis unter den Küchentisch“. Doch spätestens, wenn ihre Mutter Staub saugen wollte, mussten sie ihre Fantasiewelt wieder einpacken. „Und so stand früh fest, dass wir uns eines Tages ein Doppelhaus teilen würden mit einem Durchbruch im Keller für eine ganz große Modelleisenbahn.“ Zu einem Doppelhaus kam es dann doch nicht, da streikten ihre Frauen.

Später veranstalteten die beiden Partys an interessanten Orten und betrieben eine Diskothek. Es war der fünf Minuten jüngere Frederik, der bei einem Urlaub in Zürich einen Modellbastelladen besuchte. Fünf Minuten später rief er seinen Bruder an: „Wir bauen die größte Modelleisenbahn der Welt.“

Aus dem Märchen im Maßstab 1:87 wurde ein Besuchermagnet – weltweit. Bisher wurde in mehr als 110 Ländern über die Ausstellung berichtet. Selbst das brasilianische Fernsehen zeigte eine Reportage über die Modellbauanlage. Und die philippinische „Manila Post“ druckte zur Eröffnung von Knuffingen Airport im Mai ein Bild aus dem „Miniatur Wunderland“ auf der Titelseite.

An dem großen öffentlichen Interesse sind die Gebrüder Braun nicht ganz unbeteiligt. „Alles muss Spaß machen“, so lautet die Devise – und wenn sich das auch noch medienwirksam in Szene setzen lässt, umso besser.

Das „Miniatur Wunderland“ in der „Tagesschau“

Beide Kriterien griffen wohl auch, als sie im Vorfeld der letzten Bundestagswahl jeder Volkspartei einen Quadratmeter Kunstlandschaft spendierten, den die Politiker ganz nach ihren Wünschen gestalten durften.

Und als halb Deutschland vor eineinhalb Jahren wegen des Lokführerstreiks stillstand, wurden auch in dem Gebäude in der Speicherstadt alle Züge angehalten. Zwar nur eine Minute lang, aber dennoch waren die Bilder am selben Abend in der „Tagesschau“ zu sehen.

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Der jüngste Ansturm von Touristen aus dem britischen Königreich geht auf das Konto der bislang wohl schrägsten Aktion: ein Bahnwettbewerb mit Moderator James May in der beliebten BBC-Serie „Toy Stories“. Die Aufgabe lautete, die historische, neun Meilen lange Eisenbahnstrecke von Bideford nach Barnstaple mit einer Modelleisenbahn als Schnellster zurückzulegen.

„Wir entwickelten einen Zug, der mit Sauerkrautbenzin angetrieben wurde. Den ließen wir dann auf halber Strecke ganz dramatisch explodieren, aber mit einer anderen Bahn erreichten wir als Erste das Ziel“, sagt Gerrit Braun. Scherze wie dieser sind Teil der Firmen-Philosophie.

Dass der Erfolg auch Investoren auf den Plan ruft, verwundert nicht. Interessenten aus Dubai boten bereits eine zweistellige Millionensumme für einen Nachbau im Vergnügungspark Dubailand. Auch aus Südkorea, China und Japan reisten Delegationen in die Speicherstadt. Gerrit Braun sagt: „Das Interesse ehrt uns, aber bisher haben wir alles abgesagt. Wir haben in Hamburg noch viel vor.

„Nächstes Jahr wird die Ausstellungsfläche um ein Stockwerk erweitert. Dann werden auch noch Italien, Frankreich, Großbritannien, Afrika, Südamerika, der Mittlere Osten und die Transsibirische Eisenbahn an die Elbe verfrachtet.

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